Von Pressefreiheit in Russland bis Sex in der Bibel

Ursula Ott (22. LR.) ist Chefredakteurin von „chrismon“. Am Tag der Pressefreiheit 2019 hat sie die Gablenbergschule in Stuttgart besucht. Ihre Eindrücke:

Eigentlich müssten alle Journalistinnen und Journalisten einmal im Jahr in die Schule. Schon um sich diese Basic-Fragen selber zu stellen: Ist das Ihr Traumberuf? – Ähm, ja, war es mal, grade fühlt er sich nicht so cool an. Was dürfen Journalisten gar nicht? – Lügen. Sich kaufen lassen. Langweilen. In welches Land würden Sie im Moment nicht reisen für ein Interview? Da wird es schon echt blamabel. Syrien und Nordirak, sag ich. Da kommt aber ein Schüler her. In die Türkei, sage ich, da zucken schon ein paar mehr. Und ich komme mir vor wie ein feiges Huhn bei der nächsten Frage: Sind Sie schon mal bedroht worden? – Na danke, dass mich letztes Jahr die Lebensschützer und die AfD auf dem Kieker hatten. Sonst hätte und habe ich definitiv weniger riskiert in meinem langen Leben als manche dieser Kinder in ihrem kurzen.

Willkommen in der Gablenbergschule, Werkrealschule im Stuttgarter Osten. Reste-Schule nennen sie uns, sagt der Schulleiter grimmig , jedes Jahr muss er zittern, dass er eine fünfte Klasse zustande bekommt. Ein Achtel der Lehrerstellen sind unbesetzt. Heute fehlen leider auch zehn Schüler aus der 10a und b. Ohne Entschuldigung.

Dass die anderen da sind, „Herzlich Willkommen“ an die Tafel geschrieben haben und zwei Seiten mit wirklich guten Fragen vorbereitet haben – verdanken wir alle zusammen der Lehrerin Ulrike Holoch-Karpf. Ihre Kollegin kennt meinen Schwager Volker Göbel, dessen Ott-Göbel-Jugendstiftung wiederum unsere Aktion #journalistenschule 2019 finanziell fördert. Und so kam es, dass ich dieses Jahr nicht an meine Heimatschule ging, sondern an diese Werkrealschule, früher hieß sie Hauptschule.
Das war eine gute Idee. Nachdem ich letztes Jahr die verschnöselten Abiturienten hatte, deren Eltern aber immerhin noch die „Schwäbische Zeitung“ abonniert haben, jetzt also – wie sagte mir der Schulleiter – das reale Leben. Hat heute schon jemand eine Zeitung in der Hand gehabt? Ja, weil Frau Holoch einen Artikel über Leonardo Da Vinci mitbrachte. Jeden Tag bringt sie einen Artikel mit. „Steht ja so viel drin“, sagt sie. Jeden Tag!

Wenn sie nicht wäre – kämen Zeitungen egal in welchem Aggregatszustand einfach nicht vor hier. Zeitung? „Meinen Sie das, was bei uns immer im Hausflur liegt, obwohl wir einen Aufkleber haben, dass wir keine Werbung wollen?“ Manchmal, sagt einer, liege ein umsonst verteiltes Blatt in diesem – wie sagt man zu dem Ding an der Haustür? Und doch wissen die Mädels und Jungs ganz gut Bescheid, was los ist in der Welt. Anhand der „Reporter-ohne-Grenzen“-Karte reden wir über Wladimir Putin und Fake News, über Afghanistan und über ermordete Journalisten in Saudi-Arabien.

Ich habe gestern mittag um 12 von T-Online und Spiegel Online zehn Meldungen abgegriffen, aus denen Schülerinnen und Schüler eine Radiosendung machen sollen. Super Diskussion. Der Autofahrer, der von der Sonne geblendet in eine Schranke rast – ist der wichtiger als sechs Tote im Gazastreifen? Nein, aber wichtiger als die Fabrikexplosion mit zehn Toten in den USA, oder? Und der neue PC Virus, der muss dringend rein.
Surprise: auch für die Kirche interessieren sich diese 17-Jährigen. „Sex in der Bibel“– warum haben wir ausgerechnet diese Zeile auf den Titel von chrismon genommen? Und stimmt es, was sie auf facebook gefunden haben: Dass ein evangelischer Pfarrer in Stuttgart sich weigert Schwule zu trauen? Ja, das stimmt leider. Kirche erklären ist noch anspruchsvoller als Medien erklären.

Ich mag diese Klasse. Sie sind interessiert, sie trauen sich auch Vorurteile vorzubringen („Kennen Sie Frau Merkel?“) – und zum Abschied gibt’s Kekse. Ob sie jetzt berühmt werden, kann ich nicht ohne weiteres versprechen. Aber ich bin froh, dass mein Medium mit 2360 Followern auf Instagram immerhin vorkommt, sonst würden wir uns wahrscheinlich medial nie wieder sehen. Den einzigen richtigen Clash of Cultures hatte ich übrigens mit dem schwäbischen Hausmeister. Er hat am 1. Mai die Heizung abgestellt, und in diesem Musikraum war es so eisig, dass in unserer chrismon-Redaktion sofort der Betriebsrat intervenieren würde. Aber ist ja nur eine Schule.